Der demokratische Diskurs im Ausnahmezustand

Der Gastbeitrag "Der demokratische Diskurs im Ausnahmezustand" von Dr. Carsten Brosda ist am 7. April 2020 online bei Der Spiegel erschienen.

 

Der demokratische Diskurs im Ausnahmezustand

Ein Gastbeitrag von Carsten Brosda, SPD

 

In der Coronakrise scheinen nicht wenige bereit zu sein, auf lieb gewonnene und notwendige Freiheiten umstandslos zu verzichten. Wir dürfen der Zerstörung der Zuversicht durch Politiken der Angst nicht schweigend zusehen.

Das Ausmaß, in dem wir in diesen Tagen unser gewohntes Leben beschränken müssen, ist für eine moderne Demokratie eigentlich unvorstellbar. Doch derzeit werden Anordnungen und Verfügungen akzeptiert, die wir noch vor Kurzem zu Recht als gezielte Anschläge auf die Grundfesten unserer freiheitlichen Gesellschaft gegeißelt hätten. Diese Akzeptanz hat ihre Ursache in der tief greifenden und alles andere überlagernden Angst vieler Bürgerinnen und Bürger vor den dramatischen Folgen des Coronavirus. Die Aufgeklärtheit unserer Demokratie wird sich im politischen Umgang mit diesen Ängsten beweisen müssen.

Sorgen vor einer zunehmend als unsicher empfundenen Zukunft bedrängen nicht erst jetzt mit erheblicher Wucht unsere demokratischen Öffentlichkeiten. Achille Mbembe hat schon vor einigen Jahren beschrieben, wie sich auf dem ganzen Globus - vom Armenviertel bis hin zum Silicon Valley - das Gefühl in die Menschen hineinschleiche, die Welt könne angesichts der großen Entwicklungen unserer Zeit jederzeit zu Ende gehen. Die Zukunft öffne sich dem Nichts, so der Philosoph, und bereite den Weg für einen negativen Messianismus, der entweder in einen dürren Überlebenskampf oder aber in den kollektiven Selbstmord kurz vor der Apokalypse führe. In Zeiten des Coronavirus bekommen diese Warnungen eine nochmals gesteigerte Dringlichkeit.

Covid-19 fordert die Grundlagen unseres Lebensmodells jedenfalls frontal heraus: Wenn es ums eigene Überleben geht, dann scheinen derzeit nicht wenige bereit zu sein, auf lieb gewonnene und notwendige Freiheiten weitgehend umstandslos zu verzichten und sich dem vermeintlich Alternativlosen zu beugen. Der Schock, dass die Unangreifbarkeit der eigenen Existenz durch ein neues Virus so leicht zu erschüttern ist, sitzt tief. Die narzisstische Kränkung, eben doch verletzlich zu sein, schmerzt.

Das geht so weit, dass noch vor wenigen Tagen Bürgerinnen und Bürger in den sozialen Netzwerken geradezu aggressiv die Einschränkung ihrer Freiheitsrechte und das Ausrufen einer Ausgangssperre verlangt haben. In einer panischen Generalisierung ihres eigenen im Kern vernünftigen Social Distancing riefen sie nach dem starken Staat, der die vermeintlich Unvernünftigen mit harter Hand ebenfalls zur Räson zwingen solle. Befallen von einer solchen "Vernunftpanik", wie sie Sascha Lobo genannt hat, verlieren einige nicht nur Maß und Mitte, sondern offensichtlich auch die Empathie für die sozial weniger Privilegierten, deren Leben sich auch jetzt nicht im Homeoffice einer Fünf-Zimmer-Wohnung entschleunigen kann.

Am 31. Dezember wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als eine Million Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag.

Man konnte in diesen Momenten förmlich sehen, wie es manchen Politiker juckte, die Chance zur Selbstinszenierung als harter, die Vernunft bedingungslos durchsetzender Macher zu ergreifen. Die Hoffnung auf einen Helmut-Schmidt-Moment, der als Hamburger Innensenator während der Flutkatastrophe von 1962 kurzerhand die Bundeswehr befehligte, war nur allzu spürbar. Unklar blieb nur, ob der Drang zur noch extremeren Maßnahme ausschließlich der eigenen Profilierung geschuldet war oder ob dahinter vielleicht auch die Angst steckte, später mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, nicht schnell und entschlossen genug gehandelt zu haben. Doch daraus folgende politische Übersprungs- und Überbietungshandlungen blieben die Ausnahme.

Der feine Unterschied zwischen Ausgangssperre und Kontaktbeschränkung

Es ist ein bemerkenswertes Zeichen, dass sich die deutsche Politik jeder Kriegsrhetorik in der Auseinandersetzung mit dem Virus weitgehend enthalten hat. Während in Italien, Frankreich, Österreich und den USA regelmäßig wüste militärische Metaphern bemüht werden und Ungarn gar weite Teile seiner demokratischen Verfassung außer Kraft gesetzt hat, bemüht sich die hiesige Politik fortgesetzt darum, Bürgerinnen und Bürger als eigenverantwortliche und vernünftige Menschen anzusprechen. Der Unterschied zwischen einer Kontaktbeschränkung und einer Ausgangssperre zum Beispiel mag in der Praxis oftmals ein theoretischer sein, in der Logik der Begründung aber wird damit der öffentliche Raum als gesellschaftliche Sphäre deutlich weniger beschädigt. Bürgerinnen und Bürger dürfen sich weiterhin weitgehend frei bewegen, wenn sie darauf achten, dass sie jenen Abstand einhalten, der notwendig ist, um Infektionsrisiken zu minimieren.

Diese Präzision im Hinblick auf die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ist wichtig - und sie muss auch in allen anderen relevanten politischen Fragen leitend sein. Das gilt für die Debatte über das Handy-Tracking von positiv Getesteten ebenso wie für die Kontrollfantasien, die hinter Debatten über Bußgelder für Fake News stehen. Wer jetzt ohne sorgfältige Erörterung an die informationelle Selbstbestimmung oder aber den freien öffentlichen Diskurs herangehen will, der verändert nicht nur kurzfristig die Spielregeln unserer Demokratie, sondern überreizt das staatliche Mandat zum Schutz der Bevölkerung.

Nach der unmittelbaren Angst um die Gesundheit und der Sorge vor den wirtschaftlichen Folgen der gesellschaftlichen Vollbremsung, werden deshalb zu Recht die Stimmen lauter, die fragen, welche Auswirkungen die Beschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie auf unsere Demokratie haben werden. Die Debatte darüber kann uns helfen, die Grundlagen unseres Gemeinwesens im Blick zu behalten. Frank Biess propagiert schon 2019 "die Kultivierung demokratischer Ängste". Gerade die Sorge um die freiheitliche Demokratie könnte also eine Ressource zu ihrer Sicherung sein. Wir sollten uns gut überlegen, so der Historiker, "wovor wir uns ängstigen wollen. Denn diese Ängste könnten in der Tat die Zukunft verhindern, die sie imaginieren."

Die aktuell aufkeimenden Sorgen um die Zukunft unserer Demokratie könnten also unsere Lust auf eine demokratische Debatte mit neuem Sinn füllen. Denn es geht nicht nur um Bedrohungsszenarien, kompromisslos klare Kante und markige Krisenrhetorik, sondern vor allem darum, dass Bürgerinnen und Bürger im vernünftigen Gespräch miteinander das für alle Wichtige klären. Es ist dieses Gespräch, in dem wir zu der Einsicht gelangen müssen, dass es derzeit für unser Zusammenleben vernünftig ist, Abstand zu halten. Das leistet keine technologische App-Lösung, keine gesetzliche Ermächtigung des Bundesgesundheitsministers und erst recht keine panische Generalisierung der eigenen Milieuerfahrung auf die ganze Gesellschaft.

Das wird nur gelingen, wenn wir die wechselseitige Verletzlichkeit unserer Existenz anerkennen und solidarische Lösungen gemeinsam entwickeln. Wenn wir erkennen, dass wir einander schaden können und deswegen aufeinander Acht geben müssen. Wenn wir das gesellschaftliche Miteinander weiter leben und seine kommunikativen Grundlagen nicht preisgeben. Hier sind gesellschaftliche Leidenschaft und staatliches Augenmaß, ja, auch Selbstbeschränkung, gleichermaßen gefragt.

Der Optimismus demokratischer Politik liegt - auch in Zeiten wie der unsrigen - darin, dass wir als Bürgerinnen und Bürger einer aufgeklärten Gesellschaft erkennen, dass die Vernunft im Wortsinne zwischen uns liegt, dass wir gemeinsam vereinbaren müssen, wie wir leben wollen, was wir als wahr und für richtig akzeptieren. Das kann in Onlineforen und Social-Media-Netzwerken genauso gelingen wie in den Arenen massenmedialer Berichterstattung oder in privater Kommunikation mit Freunden und Bekannten, Kolleginnen und Kollegen. Gerade jetzt müssen wir uns um diese Orte und Foren kümmern - analog und aktuell vor allem digital. Wir müssen sie unter den Bedingungen der Distanz mit Leben füllen.

Für unsere Debatten stehen uns Expertenmeinungen und Informationsquellen in einem historisch ungekannten Ausmaß zur Verfügung. Und es ist gut und richtig, dass wir sie nutzen. Aber wir müssen es aushalten, dass wir, wie der Soziologe Armin Nassehi zu Recht anmerkt, immer wieder auf Sätze stoßen, die wir jeweils als richtig empfinden, die einander aber fundamental widersprechen. Denn natürlich sind die derzeitigen Kontaktbeschränkungen sinnvoll. Natürlich haben sie eigentlich untragbar hohe soziale, wirtschaftliche und kulturelle Kosten. Und natürlich stehen sie unserer demokratischen Ordnung entgegen. Alle diese Sätze stimmen, aber sie passen nicht zusammen. Und sie können auch nicht mit staatlicher Exekutivpolitik zusammengezwungen werden.

Es ist die Aufgabe einer freien, demokratischen und offenen Gesellschaft, die Debatte darüber zu führen, wie wir den Ausgleich zwischen diesen jeweils fundamentalen Ansprüchen gewährleisten können. Wir dürfen der Zerstörung der Zuversicht durch Politiken der Angst nicht schweigend zusehen, sondern sollten uns daran machen, das Gespräch über den richtigen Umgang mit der aktuellen Herausforderung unseres Lebens und ihren Folgen gesellschaftlich zu führen. Der demokratische Diskurs braucht keinen Ausnahmezustand.

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Dr. Carsten Brosda, geboren 1974, ist Senator für Kultur und Medien in Hamburg und Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie. Sein aktuelles Buch "Die Kunst der Demokratie" ist im Februar bei Hoffmann und Campe erschienen.

Dr. Brosda ist ebenfalls Mitglied des Kuratoriums des Vereins Haus der Pressefreiheit e.V.