DIE SPIEGEL-AFFÄRE

„Augstein raus - rein mit Strauß“

„Bedingt abwehrbereit“ lautet die Schlagzeile auf dem Titel des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL, 41/1962, das am 10. Oktober am Kiosk liegt. Der Text ist ein nüchterner, eher für Fachleute geschriebener Report über die Defizite der Nato bei einem möglichen sowjetischen Angriff und das Herbstmanöver „Fallex 62“. Danach sei die von dem damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, CSU, verfolgte Atombewaffnung und ein atomarer Erstschlag (pre-emitive strike) für die Bundesrepublik politisch und militärisch verheerend. Das schwarz-weiße Titelbild im spiegelroten Rahmen zeigte ein Porträt des uniformierten Generalinspekteurs der Bundeswehrs Friedrich Foertsch, der freundlich lächelt.

 

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Die Reaktion der Obrigkeit ist weniger freundlich: In der Nacht zum 26. Oktober, ein Freitag und damaliger Redaktionsschlusstag des Magazins, kurz nach 21 Uhr, marschieren zunächst acht Beamte der Sicherungsgruppe Bonn und des Bundeskriminalamts im Auftrag der Bundesstaatsanwaltschaft in die Redaktionsräume des SPIEGEL in Hamburg. Bereits zwei Tage zuvor haben die Experten des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) die Telefonleitungen zum SPIEGEL-Haus abgehört. Damals rauscht es noch in Leitungen bei geheimdienstlichen Zugriffen. Es bestehe der Verdacht auf Landesverrat, teilen die Polizisten den rund zwei Dutzend anwesenden Schlussredakteuren und SPIEGEL-Mitarbeitern mit, alle Zimmer seien sofort zu räumen. Sie würden versiegelt.

Gleichwohl misslingen der erste Zugriff und die Räumung des Gebäudes. Einsatzleiter Staatsanwalt Siegfried Buback muss Unterstützung bei der Hamburger Kriminalpolizei anfordern. Weitere 20 Kripobeamte und drei Überfallkommandos werden zum Pressehaus beordert. Dokumente werden beschlagnahmt, Räume versiegelt, Schreibtische durchsucht. Der anwesende SPIEGEL-Fotograf Frank Müller-May dokumentiert das Geschehen und lässt die Filmrolle später angeblich im BH einer Mitarbeiterin nach draußen schmuggeln.

Dem Leiter des Wirtschaftsressorts und späteren Chefredakteur Leo Brawand gelingt es, sich in seinem Büro einzuschließen, sich in einem Schrank zu verstecken und sich so dem Zugriff der Justiz zu entziehen. Er schlägt - ganz Nachrichtenmann - zunächst telefonisch Alarm bei seiner Frau und dem Bruder des SPIEGEL-Herausgebers, Rechtsanwalt Josef Augstein in Hannover. Die Benutzung der Telefone im Pressehaus ist von den behördlichen Besatzern inzwischen untersagt. Die Beamten haben anfangs Brawands Büro in den oberen Stockwerken übersehen.

In Düsseldorf wird ein Anzeigenvertreter des Nachrichtenmagazins mit Augstein verwechselt und festgesetzt. Augsteins Zweitwohnung in Hamburg, wo er sich Freitagabend aufhält, können die Fahnder nicht ausfindig machen. Im Privathaus von SPIEGEL-Redakteur Johannes K. Engel beschlagnahmt die Staatsmacht sogar die Pläne für die dortige Kanalisation. Im Hamburger Pressehaus weigern sich selbstbewusste Redakteure, ihre Arbeitsplätze zu räumen. Der damalige Jungredakteur und Jurist Axel Jeschke erinnert sich 40 Jahre später 2012 bei einem Kolloquium zur SPIEGEL-Affäre in Hamburg an die Begegnung mit der Staatsmacht. „Ich bleibe hier sitzen und Sie zeigen mir die Stelle im Gesetzbuch, auf die sich diese Aktion stützt“, habe er damals erklärt. Nach Studium der zerfledderten Fachliteratur habe der Einsatzbeamte etwas von „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ gemurmelt. Und der damalige Jungredakteur und spätere stellvertretende Chefredakteur Dieter Wild, der nächtens in die Redaktion eilt, kommt kaum durch die Absperrungen rund um das Pressehaus. Er sagt heute: „Ja, wir waren schon besorgt. Das war bedrohlich.“

Zu Recht. Denn die Besetzung und Durchsuchung einer Redaktion in der noch jungen Demokratie 15 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur ein einmaliger Angriff auf die verfassungsrechtlich verankerte Pressefreiheit, sondern auch ein kühl kalkulierter Vorstoß, den SPIEGEL wirtschaftlich zu vernichten. „Wir wären finanziell erledigt gewesen, wenn wir für mehrere Wochen nicht hätten erscheinen können“, urteilt später SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein, der drei Monate in Untersuchungshaft sitzt. Ebenso werden die beiden Titel-Autoren festgesetzt - Hans Schmelz aus dem Bonner Hauptstadtbüro und Conrad Ahlers, der gerade in Spanien mit seiner Familie urlaubt. Haftbefehle sind vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs auch gegen die Chefredakteure Claus Jacobi, Johannes K. Engel und Spiegel-Gründer und Chefredakteur Rudolf Augstein ausgestellt.

Der Augstein-Vertraute und Verlagsleiter Detlef Becker hält jedoch mit der Restmannschaft den Laden am Laufen. Noch in der Nacht der Besetzung stellen die Kollegen der im gleichen Haus beheimaten und eigentlich konkurrierenden Redaktionen von „Die Zeit“ und „stern“ sowie „Constanze“ und „Hamburger Morgenpost“ ihre Arbeitsmaterialen, Schreibmaschinen, Büroräume und Technik zur Verfügung, um ein pünktliches Erscheinen des SPIEGEL mit einer damaligen Auflage von knapp 500.000 Exemplaren sicherzustellen. Der damalige Zeit-Journalist und langjährige Chefredakteur und Herausgeber Theo Sommer urteilt heute, „es war eine Selbstverständlichkeit, dass wir gegen einen solchen Angriff zusammenstanden“. Selbst Helmut Schmidt, damals Hamburger Innensenator, in der Nacht noch informiert, macht „schwere politische Bedenken“ gegen die Presserazzia geltend, weist aber gleichwohl seine Kripo an, die vom Bundesinnenministerium verlangte Amtshilfe zu gewähren. Unter Protest gibt der Chef vom Dienst, Johannes Matthiesen, die vollständigen Druckfahnen der laufenden Ausgabe Spiegel Nr.44/1962 an die Behörden heraus. Das Heft liegt gleichwohl am folgenden Montag am Kiosk.

In der deutschen Öffentlichkeit ist die Reaktion auf die Spiegel-Besetzung gewaltig. Wie selten zuvor solidarisieren sich Leser, Studenten, Schüler, Professoren, Lehrer, Handwerker, Unternehmer, Angestellte oder Hausfrauen mit dem SPIEGEL und organisieren Protestveranstaltungen gegen den „Presse-Notstand“. Mit selbstgemalten Schildern wie „Spiegel tot – Freiheit tot“ oder „Augstein raus – rein mit Strauß“ und „Es geht nicht um den Spiegel, es geht um die Pressefreiheit“, beginnt eine für die Nachkriegszeit grundlegende Debatte über Pressefreiheit und den Obrigkeitsstaat.

In einer turbulenten, parlamentarischen Fragestunde am 7. November verteidigt Bundeskanzler Konrad Adenauer die Redaktions-Besetzung in Hamburg mit der Begründung: „Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande“. Auf die Gegenfrage „wer sagt das“ eines sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten, schiebt Adenauer monarchistisch nach: „Ich sage das.“

Die Gerichte und Militärexperten sehen das allerdings anders. So entscheidet der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs 1965, dass keine Beweise für einen wissentlichen Verrat von Staatsgeheimnissen durch die Spiegel-Autoren vorlägen. Im Gegenteil: Viele der veröffentlichen Fakten zur Militärstrategie oder Waffenkunde seien bereits zuvor in öffentlich zugänglichen Quellen veröffentlicht worden und stellten „keinen Erkenntnisgewinn“ für gegnerische Geheimdienste da. Schon ein Jahr zuvor, als der Generalbundesanwalt unerbittlich das Hauptverfahren gegen Spiegel-Autor Ahlers und den Informanten aus dem Verteidigungsministerium, Oberst Albert Martin, eröffnen will, wird eine Stellungnahme der US-Militärs eingeholt. Überraschenderweise erklärt der amerikanische Brigadegeneral und führende Gerichtsoffizier der US-Streitkräfte, Harry Engel, dass die Interessen der US-Streitkräfte durch den „Fallex“-Beitrag im Spiegel „nicht berührt“ seien. Und Verteidigungsfachmann Helmut Schmidt, selbst Buchautor über frühe Militärstrategien der westlichen Allianz, bestätigt 2014 auf der Spiegel-Tagung in eigener Sache, „das, was damals veröffentlicht wurde, hatten wir Fachleute doch schon längst publiziert“.

Das hinderte Verteidigungsminister Strauß damals nicht dran, seinen Feldzug gegen den SPIEGEL auch mit fragwürdigen bis illegalen Mittel zu betreiben. Zunächst beteuert er vor dem Parlament überhaupt nichts mit der ganzen Aktion zu tun zu haben. Dann kommt heraus, dass er den Staatssekretär im Justizministerium angewiesen hatte, seinen Minister Wolfgang Stammberger (FDP) über die bevor stehende Ermittlung gegen den Spiegel nicht zu informieren. Zudem hat Strauß in nächtlichen Telefongesprächen mit einem wohl gesonnenen Botschaftsmitarbeiter in Spanien die Festnahme von Spiegel-Redakteur Ahlers persönlich vorangetrieben. Er verweist dabei auch auf Bundeskanzler Konrad Adenauer, der über die sofortige Verhaftung wegen Landesverrats informiert sei, was nicht stimmt. Auch die von Strauß gestreuten Gerüchte, dass sich Spiegel-Herausgeber Augstein schon auf der Flucht nach Kuba befände, nach anderen Quellen sogar in einem U-Boot, erweisen sich als frei erfundene Räuberpistole. Augstein hatte sich am Tag nach der Besetzung seiner Redaktion auf anwaltlichen Rat freiwillig zum Antritt der U-Haft gestellt.

Die vermeintliche Spiegel-Affäre wird zu einer Regierungsaffäre. Die fünf FDP-Minister der schwarz-gelben Koalition erklären am 19. November ihren Rücktritt aus Protest gegen Verteidigungsminister Strauß. Der angeschlagene CSU-Mann tritt schließlich unter dem Druck von Adenauer und der Öffentlichkeit am 30. November 1962 zurück. Die danach gewählte fünfte Adenauer-Regierung überlebt nur ein Jahr.

Der SPIEGEL übersteht diese Krise, die Affäre stärkt die Rechte von Redaktionen im Kampf um die Pressefreiheit. Die Auflage des Blattes steigt nach der Reaktions-Besetzung um gut 100.000 Exemplare. Zwar stellt das Bundesverfassungsgericht bei Stimmengleichheit am 5. August 1966 fest, dass die Durchsuchung der SPIEGEL-Redaktion und die Beschlagnahme von Unterlagen nicht gegen die Pressefreiheit verstoßen haben (SPIEGEL-Urteil). Gleichzeitig betont es aber die wichtige Rolle der Presse in der Demokratie: „Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich.“

Und der Senatspräsident des Bundesgerichtshof, Heinrich Hagusch, vergleicht die politisch-juristischen Auseinandersetzungen um die SPIEGEL-Affäre mit dem sogenannten „Weltbühne“-Prozess 1931 in der Weimarer Republik. Damals wurde an dem Herausgeber und Chefredakteur Carl von Ossietzky wegen angeblicher Spionage und Berichterstattung über die Aufrüstung der Reichswehr im Jahre 1929 ein Exempel statuiert – er wurde zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde er im Februar 1933 erneut verhaftet und im April in ein Konzentrationslager verlegt. Nach jahrelanger Folter und Misshandlungen durch die Gestapo starb er 1938 an den Folgen einer Tuberkulose. Ossietzky wurde 1935 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

(sk)

Originalquellen/Links:

Der Artikel im SPIEGEL 41/1962

Die Dokumentation

Bundesverfassungsgericht 1966, „Spiegel-Urteil“

Rudolf Augstein über die SPIEGEL-Affäre und ihre Folgen

Berliner Zeitung: Spiegel-Affäre Eine Frage der Haltung